Viele Paare kennen den Effekt, dass Intimität und gegenseitige Berührungen mit der Zeit nachlassen. Enttäuschung und Vorwürfe sind die Folge. Und so manche Beziehung scheitert daran. Muss das so sein? Und was lässt sich dagegen tun? 11 Fragen an Alma Katrin Wagener. Sie ist Heilpraktikerin (Psychotherapie), Sexual- und Paartherapeutin.

Es scheint fast ein Muster in langjährigen Beziehungen zu sein: Lust, Sexualität und Nähe flauen ab, man berührt sich weniger. Alma, wieso ist das so?

Oft ist Stress ein Grund, warum die Grundlage für erfüllende Sexualität verloren geht. Etwa im Beruf oder durch die Geburt von Kindern. Sex, Berührung, Nähe und Lust brauchen Zeit und Entspannung. Die fehlt vielen Paaren im Alltag irgendwann. Oder sie vergessen, dass sie sich die Zeit nehmen können. Dann wird die gemeinsame Intimität oft zu einem weiteren, leistungsorientierten Punkt auf der partnerschaftlichen Agenda.

Auf diese Weise entstehen Frust, Erwartungsdruck und Resignation – in Verbindung mit festgefahrenen Verhaltensmustern. Und nicht selten folgen sexuelle Funktionsstörungen oder Lustlosigkeit. Dann ist nicht mal mehr ein Kuss oder eine Umarmung möglich, ohne Erwartungen oder Leistungsdruck auszulösen.

Berührung hat ja zwei Ebenen: Die körperliche und die geistige, also das „berührt sein“ vom anderen. Was schläft zuerst ein? Und sind diese Ebenen zwingend miteinander verknüpft?

Ich spreche lieber von seelisch statt geistig. Denn es ist die liebevolle, bedingungslose Ebene, auf der wir „mitschwingen“ können. Wenn wir von erfüllender und nährender Berührung ausgehen, dann sind aus meiner Erfahrung beide Ebenen immer miteinander verknüpft. Natürlich kann ich auch nur körperlich berühren. Das nenne ich dann eher „sportlich“, so wie etwa bei einer medizinischen Massage.

Sinnlich und liebevoll verknüpft ist die Wirkung jedoch viel tiefgreifender und allumfassender – eben seelisch. Eine achtsame und fühlende Berührung berührt mich auf allen erlebbaren Ebenen zugleich. Wenn ich mir erlaube, mich ihr zu öffnen und in Resonanz mit ihr zu sein. Diese Qualität spielt in der tantrischen Berührungskunst eine wesentliche Rolle. Hier berühre und meine ich den gesamten Menschen, sein Wesen und nicht nur den physischen Körper.

Wenn ich mich wirklich allumfassend berühren lasse, dann spürt das derjenige, der mich berührt – wenn er achtsam ist. Und wir begegnen uns im selben, liebevollen Erfahrungsraum. Hier erst entsteht für mich wahre Intimität. Wie Rilke es so schön in seinem Liebes-Lied formuliert:

Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Oft geht diese Bereitschaft zum tiefen „sich-einlassen“, sich in einem schwingenden Ton zu begegnen, im stressigen Alltag verloren. Die Berührung wird beliebig und im wahrsten Sinne lieblos. Das ist dann nicht mehr erfüllend und nährend, sondern eher mühevoll. Und es bleibt ein hungriges Gefühl.

Kann man in einer Partnerschaft durchaus sehr empathisch miteinander umgehen, und trotzdem den Bezug zur körperlichen Berührung verlieren?

Das ist natürlich auch möglich. Insbesondere dann, wenn einer der Partner mit seiner Körperlichkeit und Sexualität nicht im Reinen ist. Wir Menschen neigen dazu das zu meiden, was uns nicht „leicht von der Hand“ geht. Geht der Partner mit der Vermeidung des Betroffenen mit, dann „stirbt“ unter Umständen auch die Berührungsebene.

Hier ist Offenheit und eine liebevolle Kommunikation unbedingt notwendig, als Türöffner. Ich erlebe oft, dass sich eine Seite mit einem sexuellen „Problem“ – zu dem aus meiner Sicht immer beide Partner gehören – allein gelassen bzw. nicht erwünscht fühlt. Den Weg in einen gemeinsamen intimen Raum kann man jedoch schlussendlich nur zusammen gehen.

Was rätst du Paaren, die zu dir kommen, und sich wieder mehr Berührung wünschen? Gibt es hier eine Art Plan, der die Intimität Schritt-für-Schritt neu trainiert? So dass er auch im Unterbewusstsein von Mann und Frau ankommt?

Grundsätzlich ist diese Arbeit sehr individuell. Im Kern geht es darum, Bewusstheit, Achtsamkeit und Kommunikationsstrukturen zu erkennen und neu zu lernen. Die aktive Berührungsqualität verfeinert sich fast von allein, wenn man wach gegenüber ihrer Wirkung ist.

Ich arbeite mit Hilfe einer Mischung aus Elementen des Hamburger Modells, verschiedenen Übungs-Ideen der amerikanischen Sexualtherapeutin Betty Martin und des psychotherapeutischen Modells des Inneren Kindes (John Bradshaw). Zunächst geht es mir darum, mit den Partnern zu klären, was als ursprüngliches Bedürfnis hinter dem Wunsch nach Berührung steht. Oft mischen sich da nämlich sehr alte, unerfüllte Kindheitsbedürfnisse mit Lust und sexuellen Wünschen zu einem eher ungenießbaren Cocktail. Hierfür ein Bewusstsein zu schaffen, hilft sehr beim Erkennen und der klaren Kommunikation. Gegebenenfalls in Einzelarbeit.

Die Kommunikationsfähigkeit zu erweitern besteht etwa darin, zu lernen, die eigenen Berührungs-Wünsche (!) zu äußern. Und, weil es sich um einen Wunsch handelt: Sowohl das „Ja“ als auch das „Nein“ des Partners akzeptieren zu lernen. Das Rad des Konsens von Betty Martin ist hier sehr hilfreich. Damit werden die Ebenen der Kommunikation verständlich, bei denen es oft zu Missverständnissen kommt. Eine zentrale Frage dabei ist: Woher in mir kommt der Impuls für eine Berührung? Und was möchte er?

Das Hamburger Modell hilft zum Beispiel mit der Sensate Focus-Idee, den Fokus vom Ziel (Geschlechtsakt, Orgasmus) zum hier-und-jetzt-Erleben umzulenken. Um so den Leistungsdruck zu nehmen. Ich empfehle den Paaren, zunächst den reinen „Geschlechtsakt“ und den Orgasmus für eine Zeit als Ziel der Berührung auszuschließen. So entsteht wieder mehr Raum und Zeit, den Kontakt sowie die Sinnlichkeit von Berührung zu erleben. Damit kann ich in mir die angestossene Schwingung, also meine Resonanz auf die Berührung, „zu Ende“ fühlen. Achtsamkeitsübungen zur Erfahrung von Berührungs-Intention und -qualität gehören ebenso zum Inhalt der Therapie.

Wenn es keinerlei intimen Kontakt mehr gibt, kann man dann noch von einer Beziehung sprechen? Ist eine solche Partnerschaft noch zu retten, und wie?

Das liegt in der Hand des Paares. Ist die zugrundeliegende Verbundenheit für beide noch klar spürbar? Und doch hat sich im Alltag eine Resignation oder Routine eingeschlichen? Dann ist es sinnvoll, in einfachen Kontakt- und Kommunikationsübungen den Zugang zum liebevollen Herzkontakt wieder herzustellen. Etwa durch Blickkontakt, Erspüren der eigenen Gefühle und Emotionen im Nahsein des Partners etc.

Dies ist die Grundvorraussetzung für einen fruchtbaren paartherapeutischen Prozess. Beide Partner brauchen die Bereitschaft, sich wieder aufeinander zubewegen zu wollen. Die Bereitschaft, sich aufeinander zu beziehen. Ist das grundsätzlich noch möglich, so gibt es aus meiner Sicht noch eine „Beziehung“. Sind die Fronten bereits resigniert und verhärtet, dann wird es deutlich schwieriger.

Manche Paare besuchen gemeinsam Tantra-Seminare oder Berührungs-Coachings, um neuen Schwung in die Beziehung zu bringen. Wie gefestigt sollte die Beziehung hierfür sein? Stichwort Eifersucht und Offenheit..

Das sollte jedes Paar für sich herausfinden und in Ruhe entscheiden. Es kann in der Tat triggernd sein, seinen Partner mit einem anderen Menschen in nahem Kontakt zu erleben. Beispielsweise dann, wenn man im Seminar für andere Berührungs-Partner offen sein möchte. Der tantrische Raum bietet jedoch eine wunderbare Möglichkeit, seinen eigenen Dämonen zu begegnen und langfristig eine liebevolle und „sehende“ Partnerschaft zu führen.

Es kann natürlich auch überfordernd sein: Wenn ein Partner vorangeht und der andere ihm/ihr „zu Liebe“ folgt, aber selber (noch) nicht bereit ist, sich seinen eigenen Besitzansprüchen und Abhängigkeiten innerhalb der Partnerschaft zu stellen. Ich schreibe „zu Liebe“ in Anführungszeichen, weil es sich in meinen Augen hier nicht um Liebe sondern um Angst handelt. In diesem Fall braucht es eine große Offenheit, Mut und Bereitschaft, sich in die eigenen Heilungsprozesse zu begeben, die mitunter schmerzhaft sind. Am besten therapeutisch begleitet. Das kenne ich auch gut aus eigener Erfahrung.

Es braucht in jedem Fall ein grundsätzliches Verständnis der angstbasierten Mechanismen, die in einer Partnerschaft wirken. Dann kann ein solches Seminar oder Coaching ein wunderbares Geschenk sein, dass man sich und seinem Partner macht.

Wenn hierbei einer vorprescht, und alleine solche Seminare besucht oder sich anderweitig Hilfe sucht, während der andere nicht mitzieht.. Kann das funktionieren? Was sollte man berücksichtigen?

Auch hier braucht es aus meiner Sicht ein grundlegendes Verständnis der individuellen Dynamik innerhalb der Partnerschaft. Jeder Partner sollte bereit sein, seine Grenzen und „Untiefen“ im Blick zu haben. Und die Verantwortung für sein Wohl selber tragen zu können. Sich in einem Seminarsetting gänzlich auf den Partner zu verlassen – wenn das Teil der Beziehungsstruktur ist – macht oft keinen Sinn. Und es führt zu Konflikten, die hinterher mitunter mühsam aufgearbeitet werden wollen.

Wie schafft man es generell, den Wunsch nach mehr Berührung auf einer gemeinsamen Ebene zu verfolgen? Ist es nicht oft so, dass sich ein Partner mehr wünscht, als der andere? Oder muss hier der eine den anderen mitziehen, damit es nicht stagniert?

Das ist manchmal verzwickt, besonders am Anfang. Hier spielt oft die unterschwellig eingeforderte, kindliche Bedürfnisstruktur eine große Rolle. Sie verschleiert die mögliche, liebevolle Begegnungsqualität. Am Ende erlebe ich es meistens so, dass beide Partner mit der individuellen Dynamik jedes Einzelnen sehr glücklich sind. Weil sie sie als wahrhaftig erleben. Wenn die Berührungs-Impulse wirklich aus dem tiefen Wunsch nach Nähe und sinnlichem Erleben entspringen, dann gibt es kein unerfülltes Bedürfnis nach mehr. Es sei denn, es mischt sich doch noch kindliche Bedürftigkeit mit ein. Das kann man dann nochmal hinterfragen.

Es gibt aus meiner Sicht ohnehin keine Balance im „Geben und Nehmen“, grundsätzlich kein Konzept von „Geben und Nehmen“. Liebe fließt und will fließen. Wenn ich also aus meiner Quelle schöpfe, Impulse fließen lasse, dann bin ich in Liebe. „In love“, wie es im Englischen heißt. Da gibt es kein „hier mehr“ und „da weniger“, kein „ausgeglichen werden müssen“. Dann bade ich in Liebe – und mein Partner im schönsten Fall mit mir.

Und Wünschen ist übrigens immer erlaubt. Solange ich akzeptiere, das mein Partner die Freiheit hat, meinem Wunsch zu entsprechen oder eben auch nicht. Je nach seiner Lust, denn es gibt keine Verpflichtung. Erwartungen, Forderungen und Absichten sind kontraproduktiv auf dem Weg zu gelebter und erfüllter Intimität und Liebe. Jeder geht in seinem Tempo, sorgt für sich und kommuniziert das klar.

Manche Paare vereinbaren ein offenes oder gar polyamores Modell, um der Beziehung neues Leben einzuhauchen. Wie kann das funktionieren?

Das funktioniert aus meiner Erfahrung nur, wenn beide Partner wirklich klar und absichtslos sind. Mischen sich Angst-gebundene Themen wie Manipulation, Selbstsucht oder Abhängigkeiten in diese Absprache hinein? Oder eine vermeintliche Offenheit, um die eigene Schwäche und Verletzlichkeit zu kaschieren? Dann wird es oft schmerzhaft und dramatisch. Für die meisten Paare, die Schwierigkeiten in der Berührung haben, ist es zu viel Herausforderung, dies als Mittel für „neues Leben“ in der Beziehung einzusetzen.

Damit diese Ideen für beide erfüllend sein können braucht es absolute Freiwilligkeit, große Ehrlichkeit und Vertrauen mit sich selbst und dem Partner. Wir Menschen sind von Natur aus auf der Suche nach Sicherheit. Wenn ich mich in mir selber nicht sicher fühle, sondern nur mit meinem Partner, dann ist diese Offenheit eine sehr große Herausforderung.

Wenn man den Weg zurück zu mehr Intimität gefunden hat: Wie bleibt man wachsam, damit sich die Spirale nicht wieder nach unten bewegt?

Klare Kommunikation spielt hier eine große Rolle. Ich spüre, dass mein Partner sich zurückzieht, ohne seine Stimmungslage zu kommunizieren? Und ich bleibe mit Fragezeichen zurück? In diesem Fall ist es immer gut, ein offenes, liebevolles Gespräch zu suchen. Hier fängt aus meiner Sicht alles an: die Möglichkeit, liebevoll zu kommunizieren. Und zwar ohne meinen Partner für meine Verunsicherung, Unerfülltheit etc. verantwortlich zu machen. Das ist ganz wesentlich. Jeder ist für seine Lust und die Erfüllung selbst zuständig.

Im Zweifelsfall kann meine Antwort immer sein: „Ich weiß auch nicht, was gerade ist… lass mir bitte etwas Zeit, das herauszufinden und in Worte zu fassen.“ Beide Partner können lernen, dem anderen diesen Raum liebevoll zu geben. Ohne Angst und Zweifel an sich, ihrem „Wert“ oder ihrer Liebesfähigkeit zu erleben. Das ist ein Prozess und ein Weg, den man nicht ohne Selbstreflektion und Geduld mit sich selber gehen kann. Und man kommt nie an, man lebt den Weg. Das kann dann eine wahrhaftige Partnerschaft ausmachen, die sich mit den Wellen des Lebens bewegt. Wunderschön!

Ein paar Worte zu dir und deiner Arbeit? Und: Wie bist du selbst zum Tantra gekommen?

Im Grunde war der Weg zum Tantra die logische Folge meines bisherigen Lebensweges. Aufgewachsen in einer intellektuellen, eher körperfeindlichen Familie, war ich schon früh auf der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für meine feine Wahrnehmung. Und für meine reiche Gefühlswelt. In der Pubertät begegnete ich meinem eigenen Körper sehr kritisch und mit vielen Fragen. Ich flüchtete mich resigniert in eine Essstörung.

Mein Körperbild und meine körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten waren durch die Störung lange verzerrt. Über viele verschlungene Wege – und mit Hilfe meines geduldigen und liebevollen Ehemanns – wagte ich, mich nach vielen Jahren der Unsicherheit und Körperschemastörung neu zu fühlen. Diese Störung verschwand übrigens im Laufe meines ersten Tantra-Seminars Tag für Tag mehr, und tauchte nicht mehr auf! Im tantrischen Erfahrungsfeld entdeckte ich eine wortlose, liebevolle und allumfassende Ausdrucksmöglichkeit für die Liebe, die schon immer durch mich fließen möchte.

Die vielen wunderbaren, hüllenlosen Begegnungen haben mich so vieles gelehrt. Ich möchte diesen freien und erfüllenden Raum nicht mehr missen. Für meine Arbeit mit Paaren und Menschen, die unter sexuellen Blockaden oder Funktionsstörungen leiden, ist meine eigene tantrischen Erfahrung ein wahrer Schatz. Mit ihm kann ich mich so tief einfühlen. Und ich wage es, die wesentlichen Dinge tatsächlich „hemmungslos“ auszusprechen. Diese erlebte Offenheit schätzen meine Klienten sehr.

Lieben Dank an eine geschätzte Freundin für dieses hilfreiche Interview. Mehr zur Arbeit von Alma findest du auf ihrer Webseite. Du hast Fragen an Alma oder zum Thema? Dann nutze gerne die Kommentarfunktion.

Bilder: Jonathan Borba, Alexander McFeron, Andrew Neel, Toa Heftiba

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