Ich schreibe in diesem Blog oft über achtsame Sexualität. Aber was ist das überhaupt? Slow Sex, Kuschelsex, Räucherstäbchen-Erotik oder doch mehr? Wie du deine Sinnlichkeit mit Achtsamkeit verbinden kannst. Und welche ungewohnten Allianzen dabei möglich sind.

Was ist Achtsamkeit

Der Schlüssel zu deinen Empfindungen ist die Achtsamkeit. Das Konzept dazu stammt aus dem Buddhismus. In der achtsamen Praxis versucht man, bewusster zu leben. Du beobachtest möglichst jeden Moment ganz genau. Und das ohne ihn zu bewerten. Denn mit der Bewertung bist du im Kopf, nicht mehr im Spüren. Mit der Zeit steigert Achtsamkeit die Intensität, mit der du deine Umgebung wahrnimmst – und dich selbst. Viele Menschen berichten von einem erfüllteren Alltag, seit sie ihn achtsam leben.

„Im Hier und Jetzt sein“ ist eine Metapher, die diesen Zustand recht treffend beschreibt. Bei der Meditation – oder in der tantrischen Sexualität – kennt man ihn als Zeitlosigkeit. Es gibt Übungen, die deine Achtsamkeit schärfen. Etwa:

  • Beobachte deinen Atem: Konzentriere dich dabei zum Beispiel auf die Bewegungen deines Bauchs oder den Luftzug in deiner Nase. Du schaffst es, diese Konzentration auf deine Atmung zeitlich immer weiter auszudehnen, etwa in der Meditation? Dann geraten deine Gedanken in den Hintergrund.
  • Bodyscan: Richte deine Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Bereiche deines Körpers. Du kannst ihn von unten nach oben durchgehen. Wie fühlen sich die einzelnen Zehen, deine Schenkel, dein Knie etc. in diesem Moment ganz genau an?
  • Bewusstes Gehen: Nimm beim nächsten Spaziergang jeden Schritt möglichst detailliert wahr. Wie fühlt es sich an, wenn du deine Füße jeweils auf den Boden setzt? Bleibe auch hier bei dieser einen Wahrnehmung und versuche, dich nicht ablenken zu lassen.

Die letzte Übung kannst du abwandeln, indem du dich bei jedem Spaziergang auf einen anderen deiner Sinne konzentrierst. Einmal nimmst du alle Gerüche wahr, einmal ist das Sehen im Vordergrund, ein andermal dein Tastsinn. Die Natur bietet hierfür genügend Übungsobjekte.

Manche Männer und Frauen kommen leicht in die Achtsamkeit, andere tun sich deutlich schwerer. Für Einsteiger empfehle ich die Bücher von Jon Kabat-Zinn oder Jack Kornfield. Angeleitete Achtsamkeit – etwa in einer Gruppe für Meditation, Yoga oder in einem Retreat – sind ebenfalls eine gute Basis.

Sex und Achtsamkeit: Warum?

Achtsamkeit klingt zunächst nach Disziplin, nicht nach Spaß. Was hat das also mit Lust und Leidenschaft zu tun? Es ist relativ einfach. Wenn du die Prinzipien der Achtsamkeit in deine Sexualität einfließen lässt, dann nimmst du dein Liebesleben viel deutlicher wahr. Das bedeutet:

Der letzte Punkt ist besonders spannend. Seit ich selbst eine achtsame Sexualität lebe, nehme ich meine Partnerin körperlich sehr viel mehr wahr. Ich spüre die Energien, die von ihr ausgehen, und unterstütze diese mit meinen Berührungen. Und dennoch fühle ich gleichzeitig ganz genau, was in mir selbst vorgeht. Ich muss mich also nicht mehr entscheiden, ob ich gerade gebe oder nehme. Es passiert gleichzeitig.

Noch ein paar Worte zur „Disziplin“: Nach einer Weile hast du die achtsame Praxis so sehr verinnerlicht, dass sie von alleine geschieht. Du musst dich dann nicht mehr anstrengen. Je länger du einen bestimmten Aspekt deines Lebens achtsam angehst, umso stärker ist der Effekt. Natürlich profitierst du davon, je mehr Bereiche deine achtsame Praxis umfasst. Denn die grundlegenden Mechanismen bleiben stets die gleichen.

Passt das zusammen?

Es gibt achtsame Ernährung, achtsame Erziehung, achtsamen Sport, achtsame Partnerschaften, achtsame Mitarbeiterführung oder den achtsamen Umgang mit unserer Umwelt. Aber achtsamer Sex? Darüber redet unsere Gesellschaft weit weniger, als über die zuvor genannten Disziplinen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Teile der achtsamen Bewegung die Lust und den Sex ausklammern.

Ein Beispiel: Im Yoga gibt es zahlreiche Figuren und Stellungen, welche die Sexualorgane oder entsprechende Energiezentren im Körper (Chakren) stärken. Manche LehrerInnen geben dieses Wissen eher verschämt weiter, oder sie lassen es gleich ganz aus. Ganz ähnlich ist in der Meditation oder in anderen spirituellen Lehren. Körper- und lustbetonte Methoden wie etwa Tantra gelten nicht selten als Schmuddelkinder der Szene. Gefangen irgendwo zwischen Klangschalen und Rudel*** – so zumindest die gängigen Klischees.

Dieser Ruf kommt nicht von ungefähr. Leider gibt es einige schwarze Schafe, die Tantra Massagen und Ähnliches vermarkten, obwohl sich dahinter wenig achtsame Erotik-Offerten verbergen. Hier verrate ich dir, wie du seriöse Anbieter findest. Abgesehen davon: Lass dich von derlei Zwist nicht verunsichern. Es gibt eine schöne Weisheit hierzu von Tandana:

Wie kann Lust etwas Heiliges sein? Wie kann Lust etwas Unheiliges sein!

Vorbehalte gegenüber der Lust existieren überall. Sie basieren meist auf Unwissenheit. Du wirst sehen, dass deine Sexualität recht schnell davon profitiert, wenn du sie bewusster angehst.

Achtsame Sexualität im Alltag

Mit zunehmender Übung kannst du allen Facetten deiner Sexualität mit Achtsamkeit begegnen. Egal ob für dich alleine oder in einer Partnerschaft. Das hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun: Du beziehst jede Faser deines Körpers, jede Unebenheit mit ein. Und fokussierst dich nicht nur auf Stellen, die schnellen Lustgewinn versprechen. Du fühlst dich nicht wohl in deiner Haut? Dann ließ dir zunächst meinen Beitrag Tantra und Körperscham durch.

Achtsamkeit umfasst deutlich mehr, als deinen Sex einfach nur ein paar Nummern ruhiger anzugehen. Insofern ist Slow Sex nur ein Teilaspekt der achtsamen Erotik. Viel mehr noch: Du musst und sollst keineswegs auf die animalischen Schattierungen deiner Sexualität verzichten. Du willst es ordentlich „krachen“ lassen? Oder du magst wilde Fantasien? Hab Spaß dabei, solange es euch beiden Freude bereitet.

Und dennoch braucht es zunächst das Wissen über die achtsame Sexualität. Sie ist die Basis, der Rest kann darauf aufbauen. Sonst rutscht du in den Porno-Modus ab. So wie viele junge Menschen, die nur die eine Seite kennen. Hier ein paar Beispiele, wie eine achtsame Sexualität im Alltag aussehen kann. Diese lassen sich nach Belieben ausbauen und ergänzen:

  • Erkunde deinen ganzen Körper, wenn du dich selbst befriedigst. Schalte dein Kopfkino aus. Bilder lenken dich vom Spüren ab. Gehe nicht bis zum Orgasmus. Beobachte stattdessen, welche Empfindungen an welcher Stelle deines Körpers auftauchen. Siehe meine Übung für sexuelle Achtsamkeit.
  • Miteinander in voller Aufmerksamkeit zu schlafen ist wunderschön. Doch spüre einmal hin, was passiert, wenn ihr einfach nur verbunden bleibt. Ohne Bewegung. Was nimmst du als Mann in deinem Lingam (deinem Penis) wahr, was als Frau in deiner Yoni (deiner Vagina)?
  • Bleibe bewusst, egal welche Spielart du ausprobierst. Was macht es mit dir, wenn du an deine Grenzen geführt wirst? Oder wenn du neue Dinge erkundest? Welche Erfahrung kannst du wie vertiefen? Beobachte genau, welche Gefühle und Emotionen auftauchen. Dazu gleich noch mehr.
  • Lass dir oder lasst euch die Tantra Massage zeigen. Es gibt gute Seminare hierfür. Das erweitert die Bandbreite deines Spürens erheblich. Wenn du empfängst, aber auch wenn du selbst massierst. Ihr bekommt einen neuen Blick auf den Körper und die Energie eures Gegenübers.
  • In einer Partnerschaft: Tauscht euch über eure intimen Wünsche aus. Dies offen zu tun erfordert viel Mut. Aber es zeigt euch, welche Mechanismen in der Beziehung wirken, die der Entfaltung von Lust im Wege stehen.

Schaff dir zudem einen geeigneten Raum sowie kleine und große Liebes-Rituale, damit sich die Sexualität besser entfalten kann – alleine oder gemeinsam. Verabrede dich zu diesen Ritualen, mit dir selbst oder mit deinem Partner/deiner Partnerin. Macht regelmäßige und feste Liebes-Zeiten aus, in denen ihr ungestört seid. Ohne Ablenkung, ohne Netflix und ohne Smartphone.

Beim Liebesspiel, in deiner Fantasie oder beim gemeisamen Austausch kommen Wut, Dominanz, Unterwerfung, Bedürftigkeit, Trauer oder Scham hoch? Solche Gefühle sind eine einmalige Gelegenheit, um mehr über dich, deine Sehnsüchte oder deine Verletzungen zu erfahren. Besprich sie mit deinem Partner bzw. deiner Partnerin. Bei starken Emotionen: hole dir gegebenenfalls therapeutische Hilfe.

Härtere Spielarten

Es gibt Bereiche der Sexualität, die man erst auf den zweiten Blick mit Achtsamkeit in Verbindung bringt. Im Rahmen eines Jahrestrainings lernte ich ein Paar aus der BDSM-Szene kennen (Bondage und Sado-Maso). Dabei geht es um das Spiel von Dominanz und Hingabe. Was hat das mit einer achtsamen Lebensweise zu tun? Die beiden zeigten mir schnell: Es gibt kaum einen Bereich, bei dem man bedächtiger vorgehen muss. Nur so lassen sich die Grenzen des anderen – und die eigenen – genau erspüren, um sie nicht zu überschreiten.

Ich habe aus meinem Einblick gelernt, dass Achtsamkeit sehr viele Ausdrucksformen kennt. Eine achtsames Verständnis von Sexualität beinhaltet gleichzeitig, dass alle Menschen ihr Liebesleben so ausrichten können, wie Mann/Frau/divers es möchte. Unabhängig von ihrer sexuellen Definition, ihrer Orientierung oder ihren Vorlieben. Oder anders formuliert: Achtsamkeit bedarf der Offenheit sowie der Toleranz. Auch und gerade in der Sexualität.

Achtsamkeit leben

Achtsame Sexualität hat eine Vorbildfunktion. Es reicht also nicht aus, diese ausschließlich in den eigenen vier Wänden zu praktizieren. Die Männer in deinem Fitnessclub geben sich Tipps, wie man mit möglichst wenig Wahrheit möglichst unbedarfte Frauen klarmacht? Deine Freundin macht sich über die naive Ehefrau ihrer neusten Eroberung lustig? Dann solltest du klar und deutlich deine Meinung sagen. Achtsamkeit und achtsamer Sex sind Aufgaben, welche die gesamte Gesellschaft angehen.

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Bilder: Milos Tonchevski, Clem Onojeghuo, Hadis Safari

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